Abnehmen: Warum Sport kaum beim Gewichtsverlust hilft
Lange galt: Je mehr sich ein Mensch bewegt, desto mehr Kalorien verbrennt er. Doch das stimmt nicht, sagt der Evolutionsforscher Herman Pontzer und erklärt, wie er versehentlich einem Grundpfeiler der Ernährungswissenschaft einen Knacks zugefügt hat. Eigentlich wollte der US-amerikanische Anthropologe Herman Pontzer mehr über das Leben unserer Vorfahren in der Steinzeit erfahren und herausfinden, wie viele Kalorien der Mensch als Jäger und Sammler pro Tag verbraucht hat. Dazu reiste Pontzer nach Tansania zum Volk der Hadza, welche immer noch ohne Strom und Maschinen, aber mit Pfeil und Bogen leben. Das überraschende Ergebnis: Ob ein Mensch täglich in der Serengeti Zebras jagt oder in Deutschland in einem Großraumbüro eine Maus hin und her schiebt, ändert langfristig nichts an seinem täglichen Kalorienverbrauch. Pontzer schließt daraus, dass Bewegung und Sport zwar gesund sind, aber kaum beim Abnehmen helfen. Wie er zu diesen Erkenntnissen gekommen ist, und warum er dafür gar nicht um die halbe Welt hätte reisen müssen, erklärt er im Interview mit t-online. Gesund abnehmen: Welches Gemüse sollten Sie am besten gegen Bauchfett essen? Herr Pontzer, Sie behaupten, dass Sport deutlich weniger beim Abnehmen hilft, als viele Menschen glauben. Wie kommen Sie zu dieser Aussage? Herman Pontzer: Das ist nicht nur das Ergebnis meiner Forschung, sondern das von vielen weiteren Studien, die seit dem Ende der 80er erschienen sind. Ich und etliche meiner Kollegen in der Wissenschaft haben an Hunderten, wenn nicht Tausenden Personen geforscht. Es gibt zwar große Unterschiede von Mensch zu Mensch, doch im Durchschnitt haben sie nach einem Jahr Training nur zwei Kilogramm Körpergewicht verloren. Und das, obwohl sichergestellt wurde, dass die Versuchsteilnehmer absolut regelmäßig und diszipliniert trainieren und nicht schummeln. Zwei Kilo nach einem Jahr Training, mehr nicht? Das zeigen die Daten. Aber wie erklären Sie das? Dafür gibt es zwei wichtige Gründe. Zum einen fühlen sich viele Menschen hungriger, wenn sie Sport gemacht haben, und essen mehr. Man kann aber nur abnehmen, wenn man mehr Kalorien verbrennt, als man zu sich nimmt. Der zweite, weit überraschendere Grund ist, dass sich der Körper bei längerer körperlicher Belastung nach einigen Monaten umstellt. Er verwendet dann mehr Energie für die Muskeln und weniger für innere Prozesse, etwa für das Immunsystem, braucht aber insgesamt fast genauso viel Energie wie vorher. Das habe ich festgestellt, als ich im Norden Tansanias an afrikanischen Ureinwohnern vom Volk der Hadza geforscht habe. Was haben Sie bei den Hadza untersucht? Als Evolutionsanthropologe interessiert mich eigentlich, wie sich menschliche Kulturen und Lebensweisen im Laufe der Jahrtausende entwickelt haben. Konkret haben mein Team und ich uns um 2010 die Frage gestellt, wie viele Kalorien pro Tag eigentlich unsere prähistorischen Vorfahren verbrannt haben, also die Jäger und Sammler der Steinzeit – das hatte vorher noch niemand untersucht. Daher haben wir den Energieumsatz der Hadza gemessen. Sie leben zwar auf keinen Fall genauso wie die Menschen vor 10.000 Jahren, aber es bestehen gewisse Ähnlichkeiten. Sie nutzen weder Strom noch Autos noch Feuerwaffen. Und sie beschaffen sich ihr Essen nicht im Supermarkt, sondern sammeln Beeren und Honig oder gehen jagen, und zwar mit Pfeil und Bogen. Klingt anstrengend. Ja, es ist ein körperlich forderndes Leben. Die Hadza-Frauen kommen beim Pflanzensammeln in der Regel auf ungefähr 13.000 Schritte pro Tag, die Männer beim Jagen auf circa 19.000. Daher haben wir erwartet, dass sie viel mehr Kalorien verbrauchen als viele Deutsche oder US-Amerikaner, die wie Sie und ich im Büro arbeiten. Doch das war nicht der Fall: Sie brauchen im Durchschnitt genauso viel – eine Riesenüberraschung. Und an diesem überraschenden Ergebnis arbeiten wir uns nun seit 15 Jahren ab. Wie sind Sie vorgegangen? Zunächst haben wir, um sicherzugehen, weitere Völker in anderen Ländern und Kontinenten untersucht, die ein ähnlich körperlich anstrengendes Leben wie die Hadza führen. Wir kamen zum gleichen Ergebnis. Dann haben wir Menschen im Westen untersucht, die im Sitzen arbeiten, etwa im Büro, und solche, die lebenslang schwere körperliche Arbeit verrichten, wie zum Beispiel ein Maurer. Ergebnis: Sie alle brauchen im Durchschnitt ungefähr 3.000 Kalorien pro Tag. Wie kann das sein? Folgendes scheint vor sich zu gehen: Wenn ein körperlich wenig aktiver Mensch beginnt, regelmäßig zu trainieren und, sagen wir, 1.000 Kilokalorien pro Woche auf dem Laufband verbrennt, dann erhöht sich zunächst sein Energieumsatz und vielleicht nimmt er sogar ein bisschen ab. Doch nach ein paar Monaten gewöhnt sich der Körper daran und stellt sich um. Die 1.000 Kilokalorien, die er mehr beim Sport verbrennt, nutzt er weniger für andere innere Prozesse. So ist etwa genau erforscht, dass Athleten und allgemein Sport treibende Menschen weniger Hormone wie Cortisol und Adrenalin produzieren, welche Stress auslösen. Zudem ist ihr Immunsystem weniger aktiv. Aber ein aktives Immunsystem klingt doch grundsätzlich nach etwas Gutem. Prinzipiell schon. Das Immunsystem verursacht bei Krankheiten oder Verletzungen Entzündungen, um dem Körper zu helfen, gesund zu werden. Aber wenn es zu viel Energie bekommt, wird es überempfindlich und dann nehmen die Entzündungen überhand, was beispielsweise schlecht für das Herz ist. Sport und körperliche Aktivität führen also auf lange Sicht nicht zu einem höheren Kalorienverbrauch, sondern dazu, dass unser Körper die verfügbare Energie sehr viel gesünder nutzt. Aber was ist mit Leistungssportlern? Müssten die nicht einen erhöhten Energieumsatz haben? Für kurze Zeiträume kann das durchaus sein, etwa wenn ein Rennradfahrer an der Tour de France teilnimmt. Es ist möglich, den Körper stärker anzutreiben, als er sich anpassen kann. Aber so können die meisten Menschen auf Dauer nicht leben. Und auch die Körper von Olympioniken versuchen sich anzupassen. Das zeigt sich etwa im Übertrainingssyndrom. Wenn zu viel Energie für das Training und die Muskeln genutzt wird, bleibt für die anderen Organe zu wenig. Das Immunsystem der Athleten versagt, sie werden empfindlich für Krankheiten und Verletzungen und brauchen sehr lange, um sich zu erholen. Bei Frauen kann das auch zum Aussetzen der Periode führen. Der Körper funktioniert also letztlich nicht wie ein Auto, man kann nicht einfach mehr Sprit hineinpumpen und dafür länger Leistung bekommen? Nein, die Menge an Energie, die der Körper pro Tag umsetzen kann, ist begrenzt und lässt sich auf Dauer kaum erhöhen. Es fällt mir trotz allem schwer, Ihnen zu glauben. In der Schule habe ich gelernt, dass schwere körperliche Arbeit den Tagesbedarf deutlich erhöht. Das schreibt auch Dieter Böning, ein deutscher emeritierter Professor für Sportmedizin. Er hat in einem Aufsatz bereits 2018 Ihre Forschung kritisiert und behauptet, es sei gut belegt, dass ein Schwerarbeiter bis zu 4.800 Kilokalorien pro Tag braucht – also deutlich mehr als Ihr Wert von ungefähr 3.000 Kilokalorien. Ich kenne Herrn Bönings Kritik, aber er liegt falsch. Die Daten, auf die er sich beruft und die Ihnen in der Schule beigebracht wurden und die überall zu lesen sind, stimmen nicht, sie sind veraltet. Verzeihung, aber jetzt klingen Sie ein bisschen wie ein Verschwörungstheoretiker. Alle anderen sollen falschliegen und nur Sie kennen die Wahrheit? Warum sollten so viele Menschen so lange mit falschen Daten gearbeitet haben? Die Messungen, auf denen Bönings Zahlen beruhen, stammen aus den 50er-Jahren und fanden vor allem im Labor statt. Die Forscher haben ihren Probanden Sauerstoffmasken aufgesetzt und gemessen, wie viel Sauerstoff pro Stunde sie bei verschiedenen Tätigkeiten brauchen, also etwa beim Gehen, Sitzen, Laufen, Schlafen oder auch beim Briefschreiben oder Mauernbauen. Dann haben sie geschaut, wie viele Stunden die Menschen pro Tag mit den jeweiligen Aktivitäten verbringen und das Ganze zusammengezählt. Die Rechnung geht aber nicht auf, wie unsere modernen Messmethoden zeigen. Der Energieumsatz ist auf lange Sicht konstant. Welche Methode haben Sie denn verwendet? Der Stand der Technik ist die sehr genaue "Doubly-Labeled-Water"-Methode. Wasser besteht bekanntermaßen aus Sauerstoff und Wasserstoff. Unsere Probanden trinken zur Messung aber besonderes Wasser, in dem sowohl die Sauerstoff- als auch die Wasserstoffatome durch Isotope ersetzt wurden. Isotope sind Atome desselben Elements, die gleich viele Protonen, aber unterschiedlich viele Neutronen im Kern haben. Dadurch lassen sie sich von den anderen Wasser- und Sauerstoffatomen des Körpers unterscheiden. Und wie nutzen Sie das? Der Knackpunkt: Wasserstoff wird ausschließlich über Wasser ausgeschieden, also etwa Schweiß und Urin. Sauerstoff hingegen verlässt den Körper sowohl über Wasser als auch beim Ausatmen als Kohlendioxid. Und Kohlendioxid kann der Körper nur produzieren, wenn er Kalorien verbrennt. Mittels Urinproben messen wir dann, wie viel schneller das Sauerstoff-Isotop verschwindet als das Wasserstoff-Isotop. Je größer der Unterschied, desto mehr Kohlendioxid wurde ausgestoßen und desto höher ist der Kalorienverbrauch. Aber wenn dieses Verfahren so viel präziser ist, warum wurde es dann nicht schon öfter und früher genutzt? Das hat drei Gründe: Erstens ist diese Technik sehr kostspielig, denn solche Isotope herzustellen, benötigt viel Energie und zur Auswertung der Urinproben braucht es sehr präzise Analysegeräte. Zweitens ist die Methode erst in den letzten zehn bis 20 Jahren wirklich ausgereift. Und drittens sind auch Wissenschaftler nur Menschen. Wie meinen Sie das? In den 50ern waren die Sauerstoffmessungen im Labor der Stand der Technik, den Forschern damals war jedoch klar, dass ihre Ergebnisse nur Annäherungen an die Wirklichkeit sind. Eine Forschergeneration später, in den 70ern, hatten die Wissenschaftler aber schon vergessen, dass diese vermeintlich präzisen Werte eigentlich nur Schätzungen sind. Und jetzt, noch einmal 50 Jahre später, können wir uns gar nicht mehr vorstellen, dass diese Daten falsch sein könnten, weil wir sie überall immer wieder gelesen haben – ob in Studien, in Schulbüchern oder im Internet. Deshalb hat bis dahin niemand die alten Fragen nach dem Kalorienverbrauch mit neuen Methoden untersucht. Aber so funktioniert Wissenschaft, was ich heute für wahr halte, kann morgen schon wieder veraltet sein. Wenn all diese Messungen sich an jedem Menschen gleichermaßen durchführen lassen, dann hätten Sie für diese Ergebnisse ja eigentlich gar nicht um die ganze Welt reisen und Ureinwohner untersuchen müssen, oder? Als Anthropologe würde ich trotzdem solche Daten bei einer Jäger-und-Sammler-Gesellschaft wie den Hadza erheben wollen. Die ganze Vielfalt menschlicher Erfahrungen ist spannend zu erfassen und zu beobachten. Doch für die konkrete Fragestellung nach körperlicher Aktivität und Energieverbrauch stimmt es, dass wir das auch in einer näherliegenden Bevölkerung hätten machen können. Wir hätten eine Menge Zeit und Geld sparen und diese ganze Forschung zu Hause machen können. Aber all das wussten wir vorher ja noch nicht. Noch eine Frage zu Ihnen persönlich: Machen Sie sich eigentlich viele Gedanken über Ihr eigenes Gewicht? Ich achte schon auf mein Gewicht, aber ich hatte weder als Kind noch jetzt als Erwachsener große Probleme, ein gesundes Gewicht zu halten. Ich habe das Glück, dass ich zu den Menschen gehöre, die sich dafür nicht besonders anstrengen müssen. Welche Tipps haben Sie zum Abnehmen? Finden Sie eine Ernährungsweise, die Sie mit weniger Kalorien satt macht. Welche Ernährung für Sie funktioniert, kann sich von der unterscheiden, die bei jemand anderem wirkt. Ein guter Anfang ist es, gesunde, unverarbeitete Lebensmittel zu bevorzugen und stark verarbeitete Produkte zu meiden.
