Friedrich Merz: Mutiger Reformkanzler nach norwegischem Vorbild?
Der Kanzler sagt: Das derzeitige Leistungsvermögen des Landes gibt diesen Sozialstaat nicht her. Die SPD sagt: "Bullshit". Das perfekte Dilemma? Ein nordisches Land weist den Ausweg. Wenn ich noch mal zur Welt käme und mir aussuchen dürfte, wo, dann würde ich mir den Start in ein Leben als Norweger wünschen. Norwegen ist das gebenedeiteste Land dieser Erde. Es pumpt das Geld seit Jahrzehnten in Form von Gas und Öl förmlich aus seinem Grund und Boden, speist daraus den mit 1,5 Billionen Dollar größten Staatsfonds der Erde, gewissermaßen als ewiges Sondervermögen , verfüllt die leeren Löcher der Gasblasen inzwischen gegen Geld mit überschüssigem Kohlendioxid aus aller Welt. Jeder Norweger hat irgendwo an einem See oder Fjord eine "Hytter", also ein einsames Ferienhäuschen als sein ganz privates Bullerbü, auch wenn das natürlich in Schweden liegt. Und das in dieser traumhaften Landschaft, von Gletschern zu vollendeter Schönheit geformt. Die Energie, die das Land braucht, fällt von selbst zum Großteil in Form von Wasser von den steilen Kanten der Fjorde. An deren Füßen übrigens überraschenderweise die köstlichsten Erdbeeren der Welt wachsen. Fast so klein wie Walderdbeeren, aber was für Geschmacksbomben! Dass ich obendrein den größten Fisch meines Lebens (Dorsch, 27 Pfund) etwas oberhalb von Bergen gefangen habe, kommt on top. Kurzum: In diesem Paradies könnte man sogar ertragen, dass es Alkohol nur zu schwindelerregenden Preisen gibt – in fensterverklebten Läden, die so verklemmt aussehen wie früher bei uns die von Beate Uhse. Das ist aber gar nicht schlimm. Im Paradies braucht man keinen Alkohol. Vielleicht nicht mal Sex, außer zur Fortpflanzung. Das Leben als Norweger ist ohnehin ein Dauerorgasmus. Wie ausgerechnet in diesem Land ein Mann wie Munch seinen weltberühmten "Schrei" malen konnte, ist mir schleierhaft. Für Depressionen gibt es aus meiner Sicht in Norwegen keinen Grund. Dass es im Winter nicht hell wird, ist in Berlin fast genauso. Nur in viel hässlicher, verkommener und dreckiger. So könnte das jetzt seitenweise weitergehen. (Jeder Norweger darf auf Kosten des Staates acht Jahre lang studieren, E-Autos darf man in Oslo umsonst auftanken ...). Aber ich fürchte, ich muss zum Punkt kommen, sonst schimpft die Textchefin, die ist da sehr streng. Werden wir also politisch. Vor Kurzem hat Norwegen gewählt, konnte man in kleinen Notizen guter Zeitungen lesen. Dabei haben sich die Sozialdemokraten mit 28 Prozent und einiger Mühe an der Macht gehalten. 28 Prozent. Die Zahl kommt bekannt vor. Es ist ungefähr das gleiche Ergebnis, mit dem hierzulande Friedrich Merz und seine Union die Wahl gewonnen haben. Und seither mit allen Mitteln und bisher mühsam versucht, einen gemeinsamen politischen Boden mit den Sozialdemokraten als am Ende einzig möglichen Koalitionspartner zu finden. Das ist dort gang und gäbe In Norwegen, so stand in diesen Einspaltern zu lesen, regieren die Sozialdemokraten nun alleine weiter wie bisher. Weil es in diesem Land von jeher gang und gäbe ist, dass der Wahlsieger eine Minderheitsregierung führt, sich seine Mehrheiten von Fall zu Fall sucht und diese in der Regel auch findet. Zum Teil auch mit einer Partei, die sich Fortschrittspartei nennt und der AfD ähnelt in ihren Grundüberzeugungen. Natürlich hat das etwas mit einer anderen politischen Kultur zu tun. Die ist viel konsensualer als bei uns. Norwegen ist nicht nur in dieser Hinsicht eine Art Schweiz des Nordens. Bei genauerem Hinsehen gründet die Sache aber noch tiefer. Norwegen hat seit jeher ein Mehrparteiensystem mit vielen mittelgroßen Parteien, wie Deutschland mittlerweile auch. Es ist daher selten bis ausgeschlossen, dass eine Partei allein die absolute Mehrheit erreicht. Auch stabile Zweier-Koalitionen mit Mehrheit sind schwierig, weil sich programmatische Unterschiede stark auswirken. Wie bei uns inzwischen auch. Stattdessen bilden Parteien oft Minderheitsregierungen, die im Parlament, das dort Storting heißt, in jedem Einzelfall auf Mehrheitssuche begeben. Die konsensuale Kultur ist also nicht Ursache, sondern Folge dieses Parteiengefüges. Das politische Klima in Norwegen ist eben deshalb von Konsenskultur und Pragmatismus geprägt, weil keiner die absolute Mehrheit hat, aber auch keine tragfähige aus zwei oder drei Partnern bilden kann. Selbst wenn eine Regierung also keine Mehrheit hat, versuchen die Parteien, durch Fall-zu-Fall-Absprachen Lösungen zu finden. Oppositionsparteien bringen ihre Forderungen ein, stimmen aber nicht automatisch gegen die Regierung. Das unterscheidet sich stark von konfrontativeren Systemen, etwa dem britischen Westminster-Modell. Oder eben dem bei uns. Geht das mit dieser Koalition? Diese Woche hat der über die Maßen geschätzte Kollege Uwe Vorkötter in seiner Kolumne darüber geschrieben , wie der CDU-Mann Friedrich Merz und der SPD-Frontmann Lars Klingbeil doch noch einen Kompromiss finden können, wenn es in diesem Herbst an die unaufschiebbaren Reformen im Sozialen gehen muss. Ich wünschte, Kollege Vorkötter bekäme recht. Tatsächlich aber fällt mir der Glaube daran schwer. Wenn ein Kanzler mit allem Recht beim Blick auf die Zahlen sagt, dass das derzeitige Leistungsvermögen des Landes diesen Sozialstaat nicht hergibt, und seine Arbeitsministerin von der SPD das als "Bullshit" bezeichnet, dann fällt es schwer, sich da eine Brücke vorzustellen, die auch trägt. Sprich: mit der das Notwendige getan wird. Eher kommt es zu einem Minimalkompromiss , der nicht von hier bis um die nächste Ecke reicht. Mit Entsetzen habe ich in diesem Zusammenhang den Rat gelesen, den sich die Koalitionäre bei ihrer Partner-Mediation in Würzburg von einer Sozialwissenschaftlerin haben sagen lassen: Die neue Präsidentin des Berliner Wissenschaftszentrums, Nicola Fuchs-Schündeln, forderte den Würzburger Stuhlkreis einerseits zu mehr Risikobereitschaft und Mut zur Deregulierung, zu "großen, mutigen Neuanfängen" auf. Sie sagte aber auch: "Wenn der Sozialstaat abgebaut wird, profitieren davon Populisten." Na denn Prost. Übersetzt heißt das: Ihr müsst dringend was tun. Aber wenn ihr das tut, dann stärkt das die AfD. Subtext: Also lasst es lieber? Oder wenn, dann nur Kosmetik? Was stärkt das Land und seine Wirtschaft? Die Frage darf doch jetzt nicht sein: Was stärkt oder schwächt die AfD? Die Frage muss sein: Was stärkt oder schwächt dieses Land? Und mein Eindruck ist, dass Friedrich Merz eine ziemlich genaue und zutreffende Vorstellung davon hat, was das sein muss. Dass aber genau das mit der "Bullshit"-SPD nicht gehen wird. Wobei: Finanzminister Lars Klingbeil hat unlängst immerhin den Namen Gerhard Schröder wohlwollend in den Mund genommen (weshalb große Teile seiner Sozialdemokraten über ihn herfielen). Man könnte also seitens der Union Folgendes machen. Einen Versuch mit der SPD starten, aber ganz klar die Mindestanforderungen einer Agenda 2030 definieren. Wenn die SPD dann nicht mitgeht: alleine machen. Mit situativer Mehrheitensuche und -findung, wie in Norwegen. "Basta" hieß das bei Gerhard Schröder, für das er in letzter Konsequenz zum Wohle des Landes seine Kanzlerschaft geopfert hat. Es ist inständig zu wünschen, dass Friedrich Merz diesen Mut aufbringt. Wenn es sein muss, um den gleichen Preis.
